Dr. Möbius – Der zweite Schützling von Künstlerin Verena Schnabel

Die Perspektive der Betroffenen einnehmen
Dies ist der zweite Blogbeitrag von Verena Schnabel (aus der Gründen der Anonymität ist das nicht ihr wirklicher Name). Sie ist Künstlerin und hat, so wie sie sagt, zwei Schützlinge. Zu dem einen, Jonathan, der aufgrund einer massiven autistischen Störung in seiner Wahrnehmung stark eingeschränkt ist, hat sie uns vor zwei Wochen (Blog vom 28.6.2020) mitgenommen... Heute berichtet sie über Dr. Möbius (ihr Schützling möchte in diesem Blog so heißen), der an einer weit fortgeschrittenen Muskeldystrophie leidet. Ihn kennt sie seit seinem 10. Lebensjahr und die beiden verbindet ihre Kreativität und der Wille zum Leben. So meistern sie auch die Herausforderungen in Zeiten von Corona. Beide Blogbeiträge - und das verbindet sie mit den Erfahrungen, die auch in vielen Kitas in dieser schwierigen Zeit gemacht wurden - verdeutlichen, wie wichtig es ist, sich auf die Perspektive der Betroffenen einzulassen, ihre Sichtweisen zu verstehen, ihre Interessen und Wünsche aufzunehmen sowie ihre Bewältigungsstrategien zu unterstützen. Das ist DIE Herausforderung! Am Ende des Blogs finden Sie drei Links zu Blogbeiträgen, die diese Herausforderung für die Fachkräfte in Kitas in Zeiten von Corona nachvollziehbar machen.

Dr. Möbius
Dr. Möbius, wie mein zweiter Schützling hier heißen möchte, und ich lernten uns in einem Kinderwohnheim in Magdeburg kennen. Ich war dort die erste, die der Paritätische Freiwilligendienst dahin aussandte, 2009: Beteiligung an Gruppenangeboten. Gleich an meinem ersten Einsatztag blieben Dr. Möbius und ich gegen Ende eines Waldspazierganges wie aneinander kleben, denn unser Gespräch fand einfach kein Ende. So wurden wir fortan noch oft belehrt: „Die Frau Schnabel kommt aber nicht nur wegen dir hierher!“

Günstige Fügung
Doch es ging nicht anders, als dass es so kam. Denn als ich wegen eines lukrativen Arbeitsangebots im künstlerisch-sozialen Bereich schon nach wenigen Monaten das Heim wieder verlassen bzw. meine Mitarbeit in der Gruppe beenden musste, kam ich fortan – immer am Sonntag – vollständig freiwillig, wegen ihm, bis heute.

Nicht jammern, leben!
Dr. Möbius fährt seinen  E-Rolli so gewandt elegant, rasant und passgenau in und um alle Winkel, Ecken durch Korridore wie einen gediegenen Straßenschlitten. Seine angeborene Muskeldystrophie (= progressiver Muskelschwund) und Skoliose erträgt er tapfer und verschwendet so wenig Gedanken und Gespräche wie möglich daran, auch wenn ihm die lebensverkürzenden und –bedrohlichen Konsequenzen bewusst sind. Vielmehr versuchen wir aus der ihm zur Verfügung stehenden Zeit, das Beste zu machen. Dass ich ihn dabei begleiten kann, kommt mir oft wie der schönste Zufall meines Lebens vor. Vielleicht ist das auch ein wunderbares Schicksal, für uns beide.

Die große Reise und wie aus Dr. Möbius ein Mann wurde!
Unmöglich aufzählbar, was wir alles unternommen haben. Unschlagbar an höchster Stelle steht unsere Hamburg-Reise, für die ich einen inoffiziellen Schnellkurs als Pflegerin von Dr. Möbius Pflegern verpasst bekam: „Frau Schnabel, Sie schaffen das mit links !“ – Wir blieben 5 Tage mit Übernachtung im 4 Sternehotel dank eines Kinderwunsch-Erfüllungs-Institutes (Danke Verein LUBA Dresden e.V.!). Auch der Besuch der Reeperbahn und zweier dort arbeitender Ladys, passte wundervoll zum 18. Geburtstag von Dr. M.

Spiele-Erfinder
Erwähnen möchte ich hier noch, dass wir auch die Erfinder des Masupoly Spiels sind. Ein völlig abgewandeltes Monopolyspiel mit selbstgeformten Spielfiguren und Ereigniskarten voll persönlicher Bezüge. Im Zentrum stehen dabei künstlerisch soziale Phantasie-Einrichtungen. Zwei Jahre Schweiß und Arbeit hat uns das gekostet und es wurde zu Dr. Möbius 20. Geburtstag am Gartentisch mit zahlreichen Gästen eingeweiht.

Auf den Hund gekommen
Da wir beide eher offene und an beinah allem interessierte Typen sind, lernen wir praktisch überall Menschen verschiedener Couleur kennen und meist übernimmt Dr. Möbius mit seiner blitzschnellen Fragetechnik das Gesprächs-Ruder und steuert es gekonnt zu Pudels Kern. Apropos Pudel! – Auch Tiere interessieren uns. Und so war es ganz großartig als Dr. Möbius herausfand, dass in einer Tierklinik irgendwo ein Dackel namens Tareq, ehemals Jagdhund voll im Einsatz, zurückgelassen wurde, als nach einer Rücken OP klar war, dass nur noch die Vorderläufe rennen konnten. Sein Hinterteil war an einem rollstuhlähnlichen Vehikel festgeschnallt, an dem das leicht deprimierende Schild befestigt war: „Ich suche ein Zuhause!“ Wir waren ganz vernarrt in den kleinen Racker, brachten ihm Leckerlis und immer größere Knochen und durften ihn sogar regelmäßig ausführen.  Den Autofahrern fielen bald die Augen aus dem Kopf wenn unser Dreier-Gespann die Straße langrollte: Dr. Möbius im E-Rollstuhl, Tareq, wie gerade beschrieben, und ich auf dem Rad.

Dann kam Corona: Überlebenskünstler
Dr. Möbius verkündete es mir höchstselbst am Telefon mit trocken leiser Stimme: „Du kannst jetzt nicht mehr kommen.“ Spätestens seit er aufgrund der Verschlechterung seiner Krankheit den erforderlichen Luftröhrenschnitt und danach die Infektion durch die Influenza 2019 nur knapp und beinahe unter Verlust seiner Stimme überlebte, gehört er zur Höchstrisikogruppe. Natürlich ein Schock für uns beide. Doch – nicht ganz unerwartet – Dr. Möbius machte gleich das, was er am besten kann: Er machte das Beste aus alle dem! – Und ich? Ich machte es ihm einfach nach und organisierte WhatsApp- und Video-Anrufe. Es waren die ersten meines Lebens, die ich mit ihm führte. Davon profitierte dann auch mein zweiter Schützling Jonathan (siehe Blog vom 28.6.2020). Und weiter: Ich versteckte sein Osterzeug im Hinterhofgarten seiner Unterkunft und rief aus weiter Entfernung „heiß“ und „kalt“.

Fensterbesuch mit Maske
Und dann, endlich, Fensterbesuche mit Maske: Es hat gerade angefangen zu regnen. Ich werde nass. Dr. Möbius wie ein Prinz im Bett liegend freut sich, mich live zu sehen und zu hören.
Er: „Kratz mich mal bitte am Hals!“ (Er kann sich ja aufgrund der fortgeschrittenen Krankheit kaum bewegen!)
Ich: „Wie denn, geht doch nicht!“
Er: „Ach ja! Kannste mal anrufen?“
Ich rufe in der Wohnküche an: „Bitte einmal auf Zimmer 110 zum Halskratzen und einen Schirm, wenn’s geht.“
Pfleger: Sehr wohl, sofort!“
Es schifft immer heftiger, der Pfleger reicht mir seinen persönlichen Schirm durchs Fenster, nach dem er Dr. Möbius vom Kratzen befreit hat. Es ist ein tolles Zusammenspiel, wie fast immer.

Dazu hören wir laut übers Smartphone: „We are the champions!“ Wir sind gut drauf: „Yeah!“ – (Ich habe Dr. M. den Text vorgelesen und er hat ihn wohlwollend abgenickt.) 

Perspektive der Kinder einnehmen:
Hier finden Sie drei Blogbeiträge, in denen es um die Perspektive der Kinder geht:
Die Kinderperspektive auf Corona und das Quasselfenster in Moers (Blog vom 28.05.2020)
Kitas sind MEHR als systemrelevant – Die Perspektive der Kinder! (Blog vom 29.04.2020)
Wir müssen die Kinderperspektive einnehmen! (Blog vom 05.04.2020)