Jonathan und Corona

Im Mittelpunkt dieses Blogbeitrags steht Jonathan (aus Gründen der Anonymität haben wir den Namen geändert), ein 19-jähriger autistischer junger Mann. Der Beitrag stammt von einer Künstlerin, nennen wir sie V. Schnabel, die seit mehr als zwei Jahrzehnten künstlerische Angebote für schwerstbehinderte Menschen macht und ihnen dadurch zu Erfahrungen verhilft, die sie sonst in ihrem Alltag, der überwiegend in Pflegeeinrichtungen stattfindet, nicht machen würden. Die wöchentlichen gemeinsamen künstlerischen Aktivitäten mit Verena haben in Jonathans Leben eine ganz hohe Bedeutung. Und dann kommt Corona und nimmt ihm das, ohne dass er verstehen kann, warum...

Jonathan
Meinen Schützling kann ich nicht fragen, ob ich über ihn berichten darf. Aber ich bin sicher, dass er damit einverstanden ist. Und ich wahre ja auch seine Anonymität. Ich nenne ihn in diesem Blog „Jonathan“. Damit wäre er sicher einverstanden. „Jonathan“ war auch das einzige Wort, das er je schreiben lernen wollte. Also, Jonathan ist zwar nicht stumm, aber vollständig taub. Und das schon, seit man ihn in Babyalter aus einer Wohnung holte, in der er um ein Haar verhungert wäre. Neben diversen Hirnschäden durch Unterversorgung, hat er eine massive autistische Störung. Heute ist Jonathan 19 Jahre alt. Er kennt nur das Leben im Heim und der Schule. Besuche für ihn, selbst entfernter Verwandter, hat es nie gegeben, außer denen von mir. (Wir sind nicht verwandt!) Vor 10 Jahren sind wir uns dann in einem Heimzimmer begegnet. Ich war dort regelmäßig, um mit den Kindern, die dort lebten, Mal- und andere künstlerische Angebote zu machen. Zu den Kindern gehörte auch Jonathan. Plötzlich war er aus seiner autistischen Tiefsee aufgetaucht und wir haben stumm einen bunten Schneemann zusammen geknetet. Es war so etwas wie „Harmonie auf den ersten Kunstgriff“ zwischen uns. Von nun an verbrachten wir jeden Samstag mehrere Stunden miteinander in dieser stillen Eintracht und formten Gebilde, zeichneten und malten. Darüber hinaus waren es aber auch Gespräche auf Papier, denn es entwickelte sich wie von selbst eine merkwürdige Symbol- und Zeichensprache daraus. Auch über Blicke und erfundene Gesten lernten wir uns immer besser kennen, auch entwickelten wir eine Vielfalt von körperbetonten Spielchen, in denen man gut Emotionen austauschen kann.

Sackgasse
Dann muss man vielleicht noch anmerken, dass Jonathan zwar auch die Taubstummen-Schule besuchte, jedoch den Unterricht meist boykottierte, Gemeinschaftsarbeit sowieso, vorgegebene Einzelbeschäftigung nur sehr kurzweilig. Lieber schloss er sich mit einem Leucht-Brummkreisel im dunklen Klo ein. Dann kam der Tag, da man ihn aus der Schule warf, weil er sich Verordnungen nicht fügte und jeden, der sie durchzusetzen versuchte, mit zunehmender Körperkraft anfiel, bis hin zu Wadenbissen etc. gleichzeitig mit dem Schulverweis verlor er den Kinderheimplatz, da sie miteinander verkoppelt waren. In der ganzen Stadt, nennen wir sie mal Magdeburg, fand sich kein Heim bereit, ihn mit seiner Vorgeschichte und den daraus resultierenden hohen Unberechenheits- und Aggressionspotenzial, zu nehmen. Es war ein Alptraum, für ihn, wie auch für mich – inklusive der der Sorge, man würde ihn vielleicht medikamentös ruhig stellen…

Doch eine Chance…
Schließlich fand sich doch ein Heim in einer Kleinstadt nah Bayern, mit gut trainierten Personal für Spezis wie ihn. Das bedeutete, dass er auf einen Schlag Stadt, Heim, Schule, Pfleger, Lehrer und seinen geliebten Heimgarten am Wald verlor. Auch konnte er die Gründe dafür nicht wirklich verstehen. Bei dem Umzug saß ich neben ihm im Transporter, der viele Stunden mit seiner spärlichen Habe und allen unseren Bildern unterwegs war. Ich half ihm, seine Raumzelle zu gestalten und ihn zu beruhigen. Fortan hieß es 5 Stunden mit dem Zug samstags zu ihm zu fahren. Doch die Zeit mit uns war so schön, dass ich es nie als Last empfand. Bei Eis und Schnee, egal, ich kam, mit Pappen, Stiften und nicht wenigen Süßigkeiten im Gepäck. Allmählich schien sich bei Jonathan eine Art Vertrauen herauszubilden, dass ich also immer wiederkäme. Und wie es aussah, schien er sich sehr langsam auch für andere und anderes zu öffnen, wie mir Pfleger immer öfter fasziniert berichteten. Aus dem zierlichen, hyperaktiven, irgendwie japanisch aussehenden Jungen ist ein athletischer Jungmann geworden. Geblieben ist das schwarze Brillengestell, das seine dunklen Augen umrandet, die mich voll Intelligenz und geballter konzentrierter Energie anstrahlen. Auch Übermut und eine tiefe Sehnsucht sind gleichermaßen darin zu lesen.

Coronaabsturz
Dann kam dieser seltsame Virus, den keiner so richtig versteht und das unvermeidliche Besuchsverbot. Was mein eigenes Leben anbetrifft, machte ich mir wenig Sorgen, da ich von jeher das Improvisieren gewohnt bin. Aber in Jonathans Fall war ich verzweifelt, weil ratlos. Was er nicht anfassen kann, existiert eigentlich nicht für ihn. Ich schickte ein bemaltes Paket voller Süßigkeiten und Buntstifte und begonnener Bilder, die er weitermalen und ausmalen sollte, falls er wollte. Er wollte. Im Heim hielt man es für das Beste zu erklären, ich sei schwer krank. Zur Unterstreichung schickte ich WhatsApp-Kurzfilme davon, wie ich pantomimisch versuchte, mich im Krankenbett aufzurichten, mit Maske und leicht stummfilmhafter Dramatik. Gleichzeitig fürchtete ich, dass ihn das wieder in die größten Sorgen treiben könnte. Ich malte ein großes Portrait von ihm und schickte Fotos vom Entstehungsprozess an die Pfleger. Aber: Zunehmend verlor Jonathan die Geduld mit mir und meinen “ faulen Ausreden „. Und Samstag für Samstag wartete er genau zu der Uhrzeit, wo ich gewöhnlich eintrete und zerlegte alldieweil Möbel, griff Pfleger an, die ihm erklärten, ich sei krank und machte sich an den sanitären Anlagen zu schaffen, um sie aus ihrer Verankerung zu reißen. Dann wieder malte er doch meine Bilder zu Ende. Auch meine Kranken Pantomimen forderte er immer wieder ein, anzusehen, spielte sie nach und bekam dabei manchmal regelrecht Lachanfälle, als wenn er meine Schauspielerei durchschaute.

Kurve gekriegt!
Und dann kam es zu einem lang geplanten Video-Anruf. Dabei tanzte Jonathan meist durch sein Zimmer, um dann sehr plötzlich auf den Bildschirm zu starren und mir intensiv in die Augen zu gucken. Er gab wahre Tierlaute von sich und schien mich dann überall im Heim zu suchen. Ich schickte Videos von Tieren und obwohl er ungern auf Bildschirme guckt, traf ich wohl einmal doch seinen Geschmack: Wilde Tiere, die sich in Zeiten von Korona in die Großstädte vorwagen. Da er nun vermehrt nach den Handy-Taschen der Pfleger grabschte, haben sie ihm alles auf ein Tablet gespeichert, das er tatsächlich selbstständig bedienen kann. An Samstagen unterbricht er inzwischen von selbst seine Ausraster und beruhigt sich mit seinem Tablet. Sie haben darauf auch unsere gesammelten Werke gespeichert. Inzwischen gibt es bekanntlich Lockerungen und ich durfte ihn unter Auflagen nach über 3 Monaten besuchen. Er hat mich ausgelassen freudig begrüßt, ohne jeden Vorwurf. Und wir haben mit Masken am Gartentisch gemalt. (Seine flog im hohen Bogen nach 30 Minuten in die Büsche.) Er hat meinen Namen, den er von Bildunterschriften kennt, zum ersten Mal in Großbuchstaben geschrieben. Jonathan ist mittlerweile 19 Jahre alt. Die Mitarbeiter*innen seines Heims haben auf der letzten Teamsitzung beschlossen, dass er zum 3. Mal in seinem Leben zum Campen darf, obwohl das für alle Beteiligten die beiden ersten Male ein Riesenstress war. Im Schwarzwald, diesmal mit mir, im Zweikammerzelt.