Wer sagt, dass Mädchen weniger Mathe können…

Gastbeitrag: Gabriele Dahle
Wer sagt, dass Mädchen weniger Mathe können… hat – leider! – offenbar Recht. Zumindest momentan. Zumindest in Deutschland. Bitteschön: als Angehörige der „frauenbewegten Generation“ kann einem da schon mal der Hut hochgehen… Kann das wahr sein?? Im Jahre 2017? – Wir haben es schwarz auf weiß: Die im Dezember 2016 veröffentlichte TIMSS-Studie (Trends in International Mathematics and Science Study; hier nachzulesen: http://www.ifs.tu-dortmund.de/downloads/TIMSS_2015_Pressekonferenz_Handreichung.pdf) hat Viertklässler/innen getestet, und die Mädchen waren signifikant schlechter in Mathe als die Jungen. Da haben wir’s.

Ich finde das Ergebnis alarmierend. Und weil in allen Lern- und Entwicklungsprozessen die Weichen in den frühen Jahren gelegt werden, halte ich es für lohnend, sich dies scheinbar real existierende weibliche Mathe-Problem einmal mit Blick auf die Kita-Arbeit genauer anzusehen.

Haben Jungen ALSO DOCH eher das „Mathe-Gen“? – Davon kann keine Rede sein. Vertieft man sich ein bisschen in die genannte Studie, so stellt man fest, dass der Mathe-Leistungsunterschied zwischen Grundschülerinnen und Grundschülern in verschiedenen Ländern verdächtige Unterschiede aufweist: Er ist beispielsweise in Spanien größer als in Deutschland, und in Polen und der Türkei kleiner. Und es gibt Länder, in denen sind die Mädchen in Mathe durchschnittlich BESSER als die Jungen: so in Norwegen und Finnland. – Das spricht wohl gegen angeborene Geschlechtsunterschiede beim Mathe-Talent, oder? Der Grund für das beschämend schlechte Abschneiden deutscher (wie auch US-amerikanischer, englischer und französischer) Mädchen muss also woanders zu suchen sein. Scheinbar schaffen wir es nicht gut, dafür zu sorgen, dass die Mädchen ihre mathematische Leistungsfähigkeit ausschöpfen.

Das, finde ich, sollte sich ändern…

Mädchen-Mathe-Fallen

Auch zu der Frage, WARUM Mädchen bei uns schlechtere Mathe-Leistungen erbringen als Jungen, gibt es Forschung; leider sehr wenig für den Vorschulbereich. Ich habe mich ein bisschen schlau gemacht, und habe zwei Faktoren gefunden, die allgemein als „Mädchen-Mathe-Fallen“ ausgemacht werden:

1.       Rollenzuschreibungen: Mathe ist nichts für Mädchen!???

Offenbar sind die Jahre zwischen dem dritten und dem sechsten Lebensjahr besonders wichtig für die Ausbildung des SELBSTKONZEPTS der Kinder in Bezug auf ihr Geschlecht: Sie wissen längst, dass sie Junge oder Mädchen sind, sie wissen irgendwann auch, dass sich dies nicht mehr ändern wird, und sie lernen nun, WAS ES HEISST, EIN MÄDCHEN (ein Junge) ZU SEIN. Und sie wollen natürlich, ein „richtiges Mädchen“ (oder eben ein „richtiger Junge“) sein. Wie lernen sie das?

·         Sie orientieren sich an VORBILDERN

Welche weibliche Rolle leben ihnen die Frauen vor, die die Kinder kennen – also die Mütter, die Tanten, die Erzieherinnen? Denken diese von sich selbst, dass sie Mathe gut können? Dass „Mathe was für Mädchen“ ist? Und wie ist das mit weiblichen Vorbildern in Büchern, in Filmen, in Fernsehsendungen, die die Kinder sehen?

·         Sie reagieren auf ERWARTUNGEN

Kinder haben ein feines Gespür für die Erwartungen, die die Umwelt (die Eltern, die Erzieher/innen, auch die anderen Kinder…) an sie hat; schließlich wollen sie ja gut da hineinwachsen. Studien haben gezeigt, dass (Vorschul- und Schul-) Pädagogen dazu neigen, von Mädchen eher zu erwarten, dass sie brav sind und sich sozial verhalten als dass sie großes mathematisch-naturwissenschaftliches Talent hätten. (Immer noch interessant ist hier z.B. das schon 18 Jahre alte Projekt an zwei schwedischen Vorschulen: http://www.alle-lernen.net/download/svaleryd.pdf).  

·         Sie lernen im Spiel: mit und durch die MATERIALIEN, die sie zum Spielen haben.

Aus Mädchen-Förderperspektive ist hier derzeit eher ein Rückschritt zu verzeichnen. Die Spielwarenindustrie (übrigens auch die Kleiderindustrie) hat in den letzten 15 Jahren eine erfolgreiche Methode zur Umsatzvergrößerung entdeckt: Fast alles gibt es nun in einer Mädchen- und einer Jungenvariante, und die Spielzeuge schon für sehr kleine Mädchen schöpfen alles an Geschlechtsrollenklischees aus, was es schon in den miefigen 50ern gab: süß, schön, niedlich… und vor allem PINK (deswegen nennt sich eine Initiative, die sich mit dieser „Pinkifizierung“ kritisch auseinandersetzt, auch „Pink stinks“: https://pinkstinks.de/). Die mit rosa „Mädchenspielzeug“ verbundenen Zuschreibungen sind eher: nett, brav und fürsorglich – und nicht etwa schlau, kreativ oder wild. Nicht wenige Mütter finden dies offenbar das für ihre Mädchen passende Spielzeug.

Diese drei Faktoren führen dazu, was eine amerikanische Forscherin (Lin Bian, Universität Illinois) erst kürzlich (wieder einmal) nachgewiesen hat: Mädchen glauben von sich selbst, dass sie „weniger schlau“ seien als Jungen (http://www.spiegel.de/forum/gesundheit/studie-zu-geschlechterklischees-wer-ist-hier-clever-wer-ist-fleissig-thread-559924-1.html). Und zwar fangen sie interessanterweise offenbar erst mit etwa sechs Jahren damit an, das zu denken; die in der Studie befragten fünfjährigen Mädchen hatten durchaus noch die Meinung, dass Frauen ebenso klug sind wie Männer. Der verhängnisvolle Wandel vollzieht sich also in der Kita-Zeit! Die großen Mädchen (um 15 Jahre) denken dann von sich, dass sie „einfach nicht gut in Mathe“ seien – selbst dann, wenn sie ebenso gut abschneiden wie die Jungen! (Das ergab 2015 eine OECD-Studie: http://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/warum-maedchen-mathe-nicht-moegen-a-1021914.html)

2.       Entwicklungs- und Lernstilunterschiede: Mädchen sind nun einmal anders?

Dies ist ein Punkt, an dem sich die Geister nach wie vor scheiden: Gibt es oder gibt es nicht biologische Unterschiede in den Interessen, in der Entwicklung, im Lernverhalten zwischen Mädchen und Jungen? In den Siebzigern war es ganz und gar verpönt, darüber überhaupt nachzudenken, heute sieht man das gelassener: Mädchen und Jungen dürfen eben auch verschieden sein. Ein interessantes Buch dazu hat die umtriebige Lerndozentin und Managementtrainerin Vera Birkenbihl veröffentlicht: „Jungen und Mädchen – wie sie lernen“ (Knaur). Mir scheinen die in mehreren Publikationen beschriebenen Unterschiede sich besonders auf das experimentierende Lernen auswirken zu können; das betrifft also zentral das Thema „Naturwissenschaft“, aber auch das Erfahren mathematischer Zusammenhänge:

·         Mädchen wollen sich auskennen, bevor sie experimentieren.

Mathe lernt man im Tun, und da spielt Bauen, Konstruieren und Experimentieren eine große Rolle. Mit Bezug auf naturwissenschaftliches Experimentieren hat man beobachtet, dass die Gefahr besteht, dass die Jungen schon längst beim Ausprobieren sind und – in typisch raumgreifender Art? – das gesamte Material in Beschlag genommen haben, bevor die Mädchen die Regeln erfahren, sich ihren Plan gemacht haben und beginnen. Vielleicht gilt Ähnliches für die Bauecke, die ja ein wichtiger Ort mathematischen Lernens ist?

·         Mädchen lernen besser in Zusammenhängen.

Platt gesagt: Jungen können sich für Details, für Einzelphänomene, für „Dinge an sich“ interessieren: für ein Gerät, das Krach machen kann, später für Schaltungen, Transistoren… Mädchen lernen besser in Bedeutungszusammenhängen und Geschichten. Bezogen auf Mathe in der Kita kann das bedeuten, dass in Geschichten eingebettete Mathe-Projekte (zum Beispiel: Wettspringen mit Franz Frosch…) den Lernvorlieben von Mädchen entgegenkommt. (Auch die Jungen profitieren übrigens nachgewiesenermaßen von Projekten mit Lernzusammenhängen. Mit diesen Zusammenhängen beschäftigt sich z.B. diese Studie: ftp://ftp.rz.uni-kiel.de/pub/ipn/zfdn/1998/Heft1/S.51-67_Haeussler_Hoffmann_98_H1.pdf).

Vielleicht sind die genannten Lernstilunterschiede aber auch schon längst die Konsequenz von Rollenzuweisungen? – Letztendlich denke ich, das ist egal: Solange solche Phänomene bereits bei den Kindern, mit denen wir zu tun haben, Wirkung zeigen, sollten wir sie im Blick haben und uns damit auseinandersetzen.

Was heißt das für die Bildungsarbeit in der Kita?

Wir wissen mittlerweile, wie wichtig die frühen Jahre sind, damit Kinder ihr mathematisches Denken entwickeln können. – Es sieht so aus, als ob wir uns gleichzeitig sehr bewusst machen müssen, dass ebendiese frühen Jahre die Weichen für die Selbstbilder von Mädchen stellen, die ihnen sagen, Mathe sei nichts für sie. Das ist ja ein wichtiger Grundstein dafür, dass sie offenbar zu oft hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben.

1.       Sich selbst reflektieren: Haltung, Vorbild, Erwartungen

Ein großer Faktor liegt offenbar in den Personen der Lernbegleitung. Als professionelle Pädagoginnen ist es wichtig, die eigene Rolle bei der Mathe-Lernbegleitung von Mädchen zu reflektieren: Wie steht es bei uns selbst beim Thema Mathe? Sind wir Mathe-Vorbilder? Haben wir uns schon einmal im Team Gedanken gemacht über unsere Rollenerwartungen an Mädchen und Jungen? – Es ist hilfreich, sich an dieser Stelle einmal kritisch zu beobachten. Und es ist auch hilfreich, selbst, vielleicht in Fortbildungen, neue und vielleicht überraschende Erfahrungen zu machen, dass Mathe eventuell doch auch dem weiblichen Geschlecht Spaß machen kann…

2.        im Team reflektieren: Angebote, Materialien, Beobachtungen

Thematisieren Sie die Mädchen- und Jungenfrage im Team. Was beobachten Sie? Gibt es etwas zu ändern? Was? Welche Materialien kommen Mädchen wie Jungen zugute? Wie sollten sie präsentiert werden, damit sie alle profitieren?

3.       Eltern ins Boot holen

Natürlich sind die Eltern ein ausschlaggebender Faktor bei der Herausbildung geschlechtsstereotyper Selbstbilder von Kindern; schließlich sind sie die wichtigsten Bezugspersonen und Vorbilder. Thematisieren Sie die Mädchen-und-Mathe-Thematik doch einmal beim nächsten Elternabend; bestimmt gibt es einige Mädchen-Eltern, die das interessant finden und selbst ins Reflektieren kommen.

Teilweise wird ja schon davon gesprochen, dass die derzeitige „Pinkifizierung“ so etwas wie ein Rückstoß sei; ein Rollback: eine Gegenbewegung gegen die Frauenbewegung der 70er. Aber: können und wollen wir uns das wirklich leisten, auf die Ressourcen der Mädchen einfach zu verzichten, indem wir ihnen wieder einen Platz als niedliche, dekorative und fürsorgliche Wesen zuweisen? – Also, ich halte es da lieber mit dem Berliner Grips-Theater, das ein in der Kinderladen-Szene der 70er höchst populäres Lied hatte:

Wer sagt, das Mädchen dümmer sind, DER SPINNT!

Zum Weiterlesen: Zum Thema „Pinkifizierung“ gibt es interessante Artikel in FAZ und Süddeutscher: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/maedchenkultur-rosa-rollback-11970522.html , http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/spielzeug-industrie-der-tiefe-rueckfall-in-die-hellblau-rosa-welten-1.3234663