Sog statt Druck: Ein „Geheimnis“ gelingender Lernprozesse

„Im Leben braucht man keinen Druck, sondern Sog.“ Welch ein kluger Satz (er stammt von Götz Werner, dem "Vater" von dm). Er gilt für die Entwicklung von Kindern wie von Erwachsenen. Denn er beschreibt so gut, wie fruchtbares Lernen passiert.

Sog statt Druck:

Ein „Geheimnis“ gelingender Lernprozesse

  

Götz Werner ist nicht nur ein erfolgreicher Geschäftsmann (Sie kennen ihn vielleicht: Er ist der „Vater“ der Drogeriekette dm), der umtriebige Mann – finde ich – hat auch kluge Gedanken, mit denen er sich oft und gern bei Vorträgen oder in Interviews zu Wort meldet. Seine Themen drehen sich und die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Neulich fiel mir ein älteres Interview* in die Hände, und seitdem geht mir dieser eine Satz nicht mehr aus dem Kopf:

„Im Leben braucht man keinen Druck, sondern Sog.“

Welch ein kluger Satz. Er gilt für die Entwicklung von Kindern wie von Erwachsenen. Denn er beschreibt so gut, wie fruchtbares Lernen passiert.

–          Erinnern Sie sich: Sie kennen dieses „Sog“-Gefühl genau; zumindest als Kind haben Sie es gekannt. Es stellt sich plötzlich ein, wenn eine Sache einen neugierig gemacht hat, man auf eine Spur getroffen ist, man etwas gestalten kann und eine große Lust zum Entdecken entwickelt… Der „Sog“-Zustand erzeugt Glücksgefühle! Bei Kindern kann man diese Gemütslage oft und eindrucksvoll beobachten: Sie „versinken“ konzentriert in das Tun, das sie „angesogen“ hat. In diesem „Sog“ geschehen tiefe Lernprozesse. Erfahrungs-Lernprozesse.

Das Gegenmodell zum Sog: der Druck.

„Ein Irrtum, den der Teufel erfand.“

Allen pädagogischen Erkenntnissen und Entwicklungen zum Trotz hält sich hartnäckig die Einstellung, Druck sei ein probates Mittel, um Kinder beim Lernen zu unterstützen. Früher gab es diesen Druck nicht selten in unmittelbar körperlicher Form: Man versuchte, Lernstoff in die Kinder notfalls hineinzuprügeln. – Das war das Modell „Lernen aus Angst“… Heute wird (zumindest in der Schule) nicht mehr geprügelt, dafür sind unsere Kinder einem nie vorher dagewesenen psychischen Druck ausgesetzt: Eltern bemühen sich schon bei ihren Kita-Kindern, eine Gymnasial-Karriere vorzubereiten und abzusichern – der Erwartungsdruck lastet auf den Kindern. Schon Grundschul-Kinder leiden heute an Burn-out – ich glaube, in meiner Kindheit hieß das „Manager-Krankheit“ und war erwachsenen Karrieremännern vorbehalten. – Was tun wir unseren Kindern an!? Um noch einmal Götz Werner zu zitieren: „Philosophisch gesehen ist die Sache mit dem Druck ein Irrtum, den der Teufel erfand.“

… Und dabei hilft Druck, in welcher Form auch immer, nicht zu nachhaltigen Lernprozessen, kann nicht die geistige Beweglichkeit und Kreativität fördern, die wir und unsere Kinder doch eigentlich brauchen, um in unseren so schnell sich ändernden Zeiten die Zukunft zu bewältigen. Nicht „gedrückte“ Menschen, die gezwungen wurden, vorgegebene Sachverhalte zu reproduzieren, sondern „gesogene“, neugierige, offene, interessierte Leute, die lustvoll und voll Selbstvertrauen Neues ausprobieren und Visionen entwickeln…

Die Aufgabe der Erwachsenen

… Zu schön, um wahr zu sein? – Beobachten Sie Kinder im freien Spiel, und Sie erleben immer wieder „gesogene“ Menschen. Und den fast schon heiligen Ernst, mit dem sie ihre Wege und Ideen dabei verfolgen. – Unsere Aufgabe als Erwachsene Begleiter/innen ist es, diese ihre Fähigkeit zu pflegen und herauszufordern: indem wir Zeit, Raum, Gelegenheit und Material geben, damit die Kinder den „Sog“ kennen- und liebenlernen können.

Damit stellen wir uns ein Stück gegen den Trend der Zeit: Spielwaren und sonstige Kinderbeschäftigungen sind oft auf einmalige, schnelle, spektakuläre Ergebnisse und Erlebnisse ausgerichtet – „Sog“ braucht aber Zeit und Raum, oft auch Wiederholungen, um den Kontakt zum eigenen inneren Erleben herzustellen. Manchmal muss eine Langeweile-Phase überwunden werden – wie im folgenden Beispiel:

Ein Beispiel**:

S. hat sich ausgesucht, sich mit einem Haufen Centstücke zu beschäftigen. Aber so recht fällt ihr nicht ein, was sie damit tun soll; sie langweilt sich und beobachtet die anderen Kinder im Raum, die mit Holzwürfeln und Korken Dinge bauen. – Doch dann beginnt sie: Vier Centstücke im Quadrat – wie schön das passt! – , darüber wieder vier: über Eck. Bald hat S. alles um sich herum vergessen – man sieht die Konzentration, das Versunkensein, den Sog, der sie dahin zieht, immer weiter zu machen. Der Turm wird höher und höher; ihre Geduld und Sorgfalt scheinen schier unendlich; am Ende ist S. die Letzte im Raum…

 

Geduld, Konzentration, Versunkenheit: der „Sog“

Noch ein Beispiel – Sog funktioniert auch in der Gruppe***:

In der Kita Nienberge-Häger in Münster wurde ein leeres Wespennest abgegeben: Ein netter Nachbar hatte den guten Gedanken, dass die Kinder so ein Gebilde interessieren könnte. – Ein faszinierendes Ding, so ein Wespennest aus Pergamentmaterial. Es „sog“ das Interesse der Kinder an, und die Erzieherinnen haben dieses Interesse begleitet: zum Beispiel mit einem Gemeinschaftstelefonat (Fragen vorbereitet, Lautsprecher an) der Kinderforscher mit der lokalen NABU-Expertin, die Kinderfragen zu Wespennestern beantworten konnte. – Wichtigste Frage. Warum STINKT es so??? (Weil sie ihre Kaka da hineinmachen … iiieh!)

Dann ging der Sog weiter. Aber nicht, wie die schlauen Pädagoginnen gedacht hatten, in Richtung weiterer Wabentiere: Bienen, Honig… all das wären doch schöne Themen gewesen (schade um die schöne Vorbereitung… J). Aber der Sog ging woandershin: Richtung Kinderpflege! Nachdem die Kinder wussten, dass in den kleinen Kammern die Wespenbabys leben, galt ihr größtes Interesse der Frage, wie es ihnen da wohl geht, wie sie versorgt  werden… und die Erzieherinnen folgten dem Interesse der Kindergruppe und unterstützen sie darin, wiederum Antworten auf ihre Fragen zu finden.

 

Ein Wespennest… stinkt! Rechts sieht man viele Wespenbabys in ihren Wespenwaben.

Aufmerksam sein, den Kindern folgen: das ist das einfache „Geheimnis“, wie wir Erwachsene den „Sog“ unterstützen können. – Gut wäre es, wenn wir auch ein bisschen von dem Druck nehmen könnten; dabei muss man bei den Eltern anfangen, die ja nicht böswillig sind, sondern das Beste wollen… aber das ist ein anderes Thema.

Vielleicht demnächst für dieses Blog…

Gabriele Dahle

know-how für kitas

www.pragma-kita.de

* Das Interview hat Verena Kainrath im Januar 2017 geführt; hier ist es: http://derstandard.at/2000051252761/Goetz-Werner-Alte-s-stellt-eine-ganze-Gesellschaft-vom-Kopf

** Das Beispiel habe ich in Bremerhaven erlebt, wo eine Kita- und Schulkindergruppe gemeinsam mit verschiedenen Materialien mathematische Erfahrungen machen. Mein Bericht darüber („Gemeinsam Mathe machen“) ist erschienen in: Dahle, Gabriele (Hrsg.): Mathematik & Naturwissenschaften, Heft 24, Februar 2010, Olzog Verlag München. Die Fotos (Gabriele Dahle) stammen aus dem Beitrag.

*** Eine ausführliche Beschreibung der Lernbegleitung in der Kita Nienberge-Häger („So forschen Experten“) in: Dahle, Gabriele (Hrsg.): Mathematik & Naturwissenschaften, Heft 25, Mai 2010, Olzog Verlag München. Die Fotos (Gabriele Dahle) stammen aus dem Beitrag.