Partizipation: Kinder haben was zu sagen!

Auch das noch: Partizipation… wieder so ein neues Thema, eine neue Anforderung, die das Erzieher/innenleben beschwert? – Jedenfalls muss man sich damit auseinandersetzen, denn Partizipation gehört zu den Dingen, die der Gesetzgeber vom Umgang der Kitas mit den Kindern heutzutage erwartet. Und ist es nicht eigentlich aus pädagogischer Sicht eine Selbstverständlichkeit, den Kindern so viel Respekt und Offenheit entgegenzubringen, dass ihre Bedürfnisse und Meinungen auch in der Kita ihren Raum bekommen?

Das ist Partizipation
Um gleich ein Missverständnis auszuräumen: „Kinder haben was zu sagen“ bedeutet NICHT: „Kinder haben es zu sagen“. Einigermaßen erschrocken habe ich kürzlich erlebt, wie eine solche Verwechslung wirken kann: Es gibt – offenbar auch bei Erzieherinnen – die Meinung, die Idee der Partizipation sei Unfug, weil sie die Kinder in dem Glauben erzöge, alles habe sich um ihren Willen zu drehen – fatale Fortsetzung der oft beklagten Missstände in manchen Familien, wo Eltern keine Grenzen setzten und Kinder zu Tyrannen und Mini-Monstern heranwüchsen. – Wenn man das so dreht, hat man freilich eine prima Ausrede, sich mit der Partizipationsfrage nicht weiter zu beschäftigen… und sich obendrein noch pädagogisch sehr klug dabei zu fühlen.
Aber: Das ist eine Verdrehung. „Partizipation“ ist kein Vorwand für faule Erwachsene, die Kinder einfach tun zu lassen, was sie wollen. Partizipation dient der Überzeugung, dass ein gestärktes Selbstbewusstsein und die Erfahrung eigener (Mit-)Gestaltungsmöglichkeiten Kindern helfen, zu aktiven, verantwortungsvollen, sozial kompetenten Mitgliedern unserer Gesellschaft heranzuwachsen. Ihnen dazu einen guten Rahmen und Impulse zu geben, verlangt von den begleitenden Erwachsenen Reflexion, Klarheit und Aufmerksamkeit. Das bedeutet Arbeit – und ist gerade nicht faules Laissez-faire.
Partizipation ist Kinderrecht
Partizipation von Kindern in der Kita ist die Umsetzung von Grund- und Kinderrechten: Die UN-Kinderrechtskonvention hat 1989 festgelegt, dass Kinder ein Recht darauf haben, dass ihre Meinung und ihr Wille gehört und berücksichtigt werden (Artikel 12); unser deutsches Recht gibt den Kindern z.B. im SGB VIII (Artikel 8) das Recht auf Beteiligung und Beschwerdeführung.
Die Rechte zielen auf zwei Ebenen ab:

Selbstbestimmung: Ich bestimme über mich. Individualrechte

Es ist ein Grundrecht, dass wir unsere Persönlichkeit frei entfalten dürfen (das steht im Grundgesetz: Artikel 2) – sofern wir nicht die Rechte Anderer verletzen. Kinder sind dabei, ihre Persönlichkeit zu entdecken und zu entwickeln, und dabei brauchen sie den Schutz und die Hilfe ihrer erwachsenen Begleiter/innen. Es ist wichtig, dass sie erleben und erfahren: Ich bin ich. Ich bin richtig und wichtig, also auch meine Bedürfnisse und meine Meinungen. – Das heißt nicht, dass all diese auch immer zum Zuge kämen, denn es gibt ja auch Andere mit Bedürfnissen und Meinungen. Aber sie verdienen Respekt und Ernstgenommenwerden: Sie sollen gehört werden; Kinder müssen unterstützt werden, sich selbst wahrzunehmen und auszudrücken. Selbstbestimmungsrechte geben einen Rahmen für das Entwickeln von Selbstorganisation; es ist ein Teil der Selbstbildung.

Kinder zu unterstützen, ihre Individualrechte zu verinnerlichen, ist auch ein Beitrag von Gewaltprävention. Das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper („Kein Küsschen auf Kommando“) ist hier ein grundlegendes Prinzip.

Selbstbestimmungsaspekte, die in der Kita eine Rolle spielen, sind beispielsweise:

·         Spielen: Was? Wo? Mit wem?

·         Essen und Trinken: Wann? Was? Wie viel?

·         Anziehen: Was zu welcher Gelegenheit?

·         Ruhe und Schlafen: Wann? Wie? Wo?

·         Sprechen: Was? Wann? Auch, wenn ich eine Beschwerde habe!

Haben Sie in Ihrer Kita Regeln und Absprachen für all diese Aspekte? Das Recht auf Spielen muss ja beispielsweise zeitweilig zurücktreten, wenn Zeit für den Morgenkreis ist. Und das Selbstbestimmungsrecht beim Essen kann ja nicht bedeuten, dass Maja heute Cola zum Frühstück verlangen oder Felix sein Mittagessen eine Stunde nach der Mittagspause „bestellen“ kann. – Was genau also ist der Rahmen für die kindlichen Selbstbestimmungsrechte für Sie, Ihr Team, Ihre Kita? … Umsetzung von Partizipation bedeutet zunächst einmal intensive Reflexion und Auseinandersetzung der Erwachsenen mit dem Thema.

Mitbestimmung: Ich bestimme mit. Kollektivrechte

Was dürfen die Kinder in Ihrer Kita (mit-)entscheiden? Welche Rituale gibt es bei Ihnen für die Beteiligung von Kindern an Entscheidungen? Werden sie informiert über anstehende Dinge? Wie? Wissen sie, wie sie mit ihrer Meinung gehört werden? Während die Selbstbestimmungsrechte auf das Individuum zielen, beziehen sich die Mitbestimmungsrechte auf eine Gruppe, es sind Kollektivrechte. Eine Einübung in Demokratie.

Die Beteiligung der Kinder an Kita-Entscheidungen kann mehr oder weniger intensiv sein; man kann vier Stufen unterscheiden:

1.       Ich werde informiert.

2.       Ich werde gehört.

3.       Ich darf mitentscheiden.

4.       Ich darf entscheiden.

Punkte, an denen die Mitentscheidung von Kita-Kindern gefragt sein könnte, sind beispielsweise:

·         Angebote / Projekte: Welche sollen stattfinden? Wie?

·         Feste: Was? Wann? Wie?

·         Ausflüge: Wann? Wohin? Was tun wir da?

·         Anschaffungen: z.B. Spielmaterial, neue Möbel…

·         Einrichtung: Raumgestaltung, Deko…

·         Essen und Trinken: Was? Organisation?

·         Tagesstruktur

·         Regeln: z.B. für das Miteinander-Umgehen, für das Benehmen bei Tisch, im Gruppenraum…

Auch hier gilt: Die Basis ist eine Verständigung im Team darüber, wie die Mitarbeiter/innen die Mitbestimmungsrechte der Kinder an den verschiedenen Punkten sehen. Welchen Rahmen setzen sie? Worüber werden die Kinder informiert, wozu werden sie gehört, wo dürfen sie mitentscheiden, und was entscheiden? Und wie geht das vor sich?

Wie geht Partizipation?
Der Rahmen muss angemessen sein und darf die Kinder nicht überfordern. – Andererseits darf man ihnen schon etwas zutrauen und zumuten; Kinder sind an vielen Stellen kompetenter als mancher Erwachsene glaubt. In jedem Fall bedeutet das Kinderrecht auf Mitbestimmung, dass die Erwachsenen etwas Macht abgeben müssen – nicht allen fällt das leicht.
Mitbestimmung braucht Rituale. Kinder lernen sie im geschützten und vertrauten Raum der Kita, mit der Verlässlichkeit wiederkehrender Regeln. Sie müssen wissen, wie sie ihre Meinungen und Argumente einbringen können. Es gibt Kitas, wo regelmäßig „Kinderparlamente“, „Kinder-“ oder „Gruppenkonferenzen“ tagen, es können sowieso stattfindende Gruppentreffen und Morgenkreise auch für Mitbestimmungsprozesse genutzt werden oder neue Gesprächsrunden eingeführt werden. Zum Umgang mit Kinderbeschwerden und –Anregungen kann es „Meckerkästen“, „Wunschboxen“ und regelmäßige Ausspracherunden geben… Damit die Kinder das Reden, Zuhören, Einbringen und Respektieren von Argumenten lernen, werden zum Beispiel „Redesteine“ oder „-herzen“ genutzt… Tipps und Anregungen für das Ausgestalten der Mitbestimmungsrituale findet man in zahlreichen Büchern, die zu dem Thema auf dem Markt sind.
Partizipation ist Teamsache
Die Frage, welchen Raum wir Kindern für ihre Selbst- und Mitbestimmung einräumen, berührt sehr tief die Überzeugungen und auch die Toleranz jedes/jeder einzelnen Mitarbeiters/Mitarbeiterin. Daher kann es nicht funktionieren, „top down“, beispielsweise durch die Leitung, festzulegen, wie genau der Rechte-Rahmen der Kinder in einer bestimmten Kita realisiert werden soll: Können zum Beispiel wirklich alle Kolleg/innen einer Regel „Die Kinder entscheiden selbst, was sie – auch draußen – anziehen“ folgen? Oder der Regel „Die Kinder dürfen selbst entscheiden, ob sie drinnen oder draußen spielen“? … Da mag manche Pädagogin ihre (nicht unberechtigten) Bedenken haben, ob das Ergebnis so gesund ist, wenn dann Kinder vielleicht winters mit ihren Lieblingssandalen im Außengelände spielen oder am Ende gar nicht mehr an der frischen Luft sein wollen. – Andere Kolleg/innen mögen andererseits der (auch berechtigten) Meinung sein, dass es wichtig ist, Kinder ihre eigenen Erfahrungen machen zu lassen, und dass man Vertrauen haben kann, dass im Kind selbst ausreichende Impulse sind, eine Situation zu suchen, die ihnen guttut.
Es sind die Erwachsenen, die in der Regie sind: Sie setzen den Rahmen, sie schaffen Verbindlichkeit, Transparenz und Verlässlichkeit, sichern die Rechte der Kinder ab. Es bedarf also der Reflexion im Team: an jedem einzelnen Punkt. Wie sieht Kollege A, Kollegin B die Sache? Was ist der kleinste gemeinsame Nenner, der Rahmen, der von allen getragen werden kann? – Und natürlich ist es wichtig, auch die Eltern „im Boot“ zu haben, damit nicht am Ende das Kind mitten in einem Kompetenzgerangel zwischen Fachkräften und Eltern steckt, ob es nun in Sandalen raus darf…
Und wenn es dann diesen Rahmen gibt: Seien Sie sicher, er wird von den Kindern in Frage gestellt werden. Da ist Offenheit gefragt und Flexibilität; nichts muss in Stein gemeißelt sein. Haben die Kinder gute Argumente? Dann kann die Regel vielleicht doch abgeändert werden? Vielleicht gibt es einen Kompromiss? – Ich habe einmal eine Kita besucht, in der die Kinder es sehr lästig fanden, dass sie täglich „an die frische Luft“ sollen. Sie wollten selbst entscheiden, ob sie drinnen oder draußen spielen. In zähen Verhandlungen mit dem Team (das fand, Kindergesundheit braucht regelmäßige Bewegung in der frischen Luft) schlugen die Kinder heraus, dass sie an einem Tag in der Woche, wenn sie das wollen, zum Spielen drinnen bleiben dürfen. Zur Kontrolle hängt nun immer ein „Stempelzettel“ neben der Tür nach draußen, der die Wochentage zeigt und für jedes Kind eine Spalte hat. Möchte ein Kind drinnen bleiben, stempelt es einen kleinen Bären in den jeweiligen Tag. – Damit ist für alle ersichtlich, dass es an allen folgenden Wochentagen mit den anderen Kindern ins Außengelände gehen wird.
Partizipation ist eine Haltung
Gelebte Partizipation erfordert eine Haltung, die den Kindern Respekt entgegenbringt, die sie ernstnimmt und ihnen vertraut. Welches Bild vom Kind liegt unserem Handeln zugrunde? Sind wir in unserem Inneren davon überzeugt, dass Kinder eigenständige Persönlichkeiten sind, deren wesentliche Entwicklungsmotoren die eigene Neugier und eigene Erfahrungen sind? Dass sie insofern „Selbstbildner“ sind, die ein Recht auf Selbstbestimmung haben und brauchen, um ihren inneren Kompass zu finden, ihren eigenen Entwicklungsimpulse zu folgen? Wie sehen wir unsere Rolle als Erwachsene, welche die Kinder auf ihrem Weg begleiten? Wie reden wir mit ihnen? Wie genau nehmen wir wahr, was sie gerade umtreibt? Geben wir ihnen Raum zum Erfahren und Entwickeln, zum Mitteilen und Ausdrücken?
Partizipation gedeiht am besten da, wo eine offene und respektvolle Haltung den Umgang miteinander prägt: auch den Umgang der Erwachsenen miteinander. Das betrifft auch die Kommunikationskultur und Entscheidungskultur im Team. Auch die zwischen Team und Eltern.
„Kinder, die was wollen“
„Kinder, die was wollen, kriegen was auf die Bollen“, so hieß ein beliebter Erwachsenenspruch, als ich im Kindergartenalter war. Das ist wirklich lange her. Damals fanden Erwachsene nichts dabei, Kinder zu schlagen, wenn sie mal nicht dem Erwachsenenwillen folgen wollten, sie zum Teller-Leeressen zu zwingen, oder sie nach Belieben zu küssen. – Es hat sich glücklicherweise viel verändert seither.
Eine meiner Lieblingsgeschichten aus den Kitas, mit denen wir zusammenarbeiten, ist folgende: Zwei Erstklässler, gerade der Kita entwachsen, in der sie gelernt hatten, ihre Meinung einzubringen, standen nach zwei Wochen Schulerfahrung eines Tages vor der Bürotür des Rektors. Sie durften hereinkommen, und ihr Anliegen war eine Frage: „Bist du hier der Chef?“ – „Ja, das bin ich.“ – „Dann bist du der Bestimmer hier?“ – „Ja, das kann man so sagen.“ – „Und: WAS DÜRFEN WIR BESTIMMEN?“ … Er hat gestaunt, dieser Schulleiter.
So ein Selbstbewusstsein wünscht man sich doch; Menschen, die es selbstverständlich finden, mitzugestalten – was ja auch heißt: mit Verantwortung zu übernehmen.
Ich glaube nicht, dass es dazu von Belang ist, wie genau der Rahmen der Partizipation in den Kitas gesetzt ist, und mit welchen Ritualen genau sie umgesetzt wird – das werden die Einrichtungen so machen, wie es zu ihnen passt. Viel wichtiger ist, dass die Kinder erleben, DASS sie gehört und ernst genommen werden mit ihren Bedürfnissen, Eigenheiten und Meinungen, und dass sie ein Recht darauf haben, dass diese auch Raum finden.
Hierfür sinnvolle Wege und Rituale zu finden, ist eine anspruchsvolle und immer wieder fordernde Aufgabe für die Fachkräfte – weit entfernt von „da machen die Kinder, was sie wollen“.
Gabriele Dahle

 

Literaturtipps:

Rüdiger Hansen, Raingard Knauer: Das Praxisbuch: Mitentscheiden und Mithandeln in der Kita. Verlag Bertelsmann Stiftung 2015

Heidi Vorholz: 55 Fragen & Antworten: Partizipation in der Kita. Cornelsen 2015

Kindergarten heute Praxis kompakt: Beschwerdeverfahren für Kinder. Herder 2014

Michael Regner, Franziska Schubert-Suffrian: Partizipation in der Kita. Herder 2011

Kindergarten heute Praxis kompakt: Partizipation in der Kita. Herder 2009