Mathe-Tipps für die Kita Teil 2: Mathe & Bewegung

In meiner Schulzeit war das, platt gesagt, so: Da gab es einerseits die „Schlauen“ – die konnten gut Mathe, haben aber im Sportunterricht in der Regel versagt. Und andererseits waren da die „Sportskanonen“ – die haben sich durch die Mathearbeiten durch Abschreiben gerettet. Ausnahmen bestätigten die Regel… Jedenfalls konnte man den Eindruck gewinnen, mathematische und körperliche Begabungen schlössen einander tendenziell aus.

– Und nun sagt uns die Lernforschung, dass körperliche Bewegung und die Entwicklung mathematischen Denkens eng zusammenhängen. – Müssten dann nicht alle Leistungssportler/innen außer „Sportskanonen“ auch „Mathe-Kanonen“ sein? – Nein, natürlich nicht. Der Zusammenhang von Lernen und Bewegung meint keinen Leistungssport, auch nicht Schulsport (der letztendlich auch „Leistungen“ misst – also: höher, schneller, weiter), sondern ganz grundlegende Körpererfahrungen, mit denen wir uns und den Raum um uns herum wahrnehmen und erobern. Das ist die Grundlage für mathematisches Denken (wie auch übrigens für viele andere Lernprozesse). Und diese Grundlage entwickeln Kinder durch Bewegen und Berühren. Nicht ohne Grund arbeiten Lernberatungs- und Fördereinrichtungen mit Bewegungsspielen aus Motopädie und Psychomotorik, um bei Schulkindern aufgetretenen Mathe-Defiziten entgegenzuwirken: Die Idee ist, an Körpererfahrungen nachzuholen, was im frühen Kindesalter nicht genügend Raum hatte, und so die fehlende Basis nachträglich herzustellen.
Was also hat Mathe denn nun mit Bewegung zu tun?

Von der Erfahrung zur Vorstellung
Mathematik findet in unserem Kopf statt. Das gilt beispielsweise für Zahlen: „Die Sechs“ gibt es nicht; sie kann dem Kind in der Welt nicht begegnen wie ein Käfer oder ein Hagelschauer. „Sechs“ ist eine Idee. Um sie im Gehirn zu aktivieren, müssen wir uns nicht bewegen – aber dazu muss sie als Idee im Kopf präsent sein. Diese Präsenz „erspielt“ sich das Kind, indem es ausreichend praktische, direkte Erfahrungen mit „sechs Dingen“ macht. Die „Essenz“ dieser Erfahrungen verankert sich irgendwann im Gehirn und manifestiert sich: Ich kann mir VORSTELLEN, was sechs Dinge sind. Auch für mathematische Operationen, beispielsweise Addieren und Subtrahieren, gilt das. Christina Buchner, Grundschullehrerin mit Fachwissen und praktischer Erfahrung zum Thema Mathe und Bewegung (vgl. die Buchtipps am Ende dieses Aufsatzes) beschreibt das so: „Mathe ist Hin- und Herräumen im Kopf“. Damit dies imaginäre „Räumen“ gelingen kann, braucht der Kopf eine VORSTELLUNG von Raum und von Bewegung darin. Diese entsteht durch Erfahrung von Raum, Bewegung und „Hin- und Herräumen“ in der Wirklichkeit.
 „Erfahren“ meint hier immer: mit ALLEN Sinnen. Und davon haben wir Menschen eine ganze Menge; manche sind allgemein gar nicht sehr bekannt. Unsere moderne Welt spricht bevorzugt den Seh- und den Hörsinn an; umfassende Erfahrungen brauchen aber auch den Tastsinn, den Gleichgewichtssinn, die Eigenwahrnehmungssinne (Sinneszellen in den Muskeln und Gelenken melden uns beispielsweise, in welcher Lage sich unser Körper gerade befindet), das Riechen und Schmecken, den Temperatursinn… Je jünger der Mensch, desto wichtiger sind diese „körpernahen“ Sinne beim Erfahren und Lernen.

Körper und Raum erfahren
Die Körpererfahrung ist, bei Licht betrachtet, nicht wirklich zu trennen von der Raumerfahrung; der Anfang der Raumwahrnehmung ist ja die Wahrnehmung unseres eigenen (ebenfalls dreidimensionalen) Körpers.
Dabei ist der Ausgangspunkt, das Zentrum, von dem aus sich alles Weitere entwickelt, der Säugling, das Kleinkind selbst. Es ist, mathematisch betrachtet, der „Nullpunkt“ im Koordinatensystem der drei Dimensionen.
Der Ausgangs- und Mittelpunkt aller Erfahrung bin: ICH!

 

Die drei Raumdimensionen erfährt das kleine Kind nacheinander:

 

1. Oben und unten:
Die erste Raumwahrnehmung ist die Vertikale. Das Baby kann die Schwerkraft spüren; das ist die Kraft, die nach UNTEN zieht.

2.  Vorn und hinten:
Die zweite Dimension, die Kinder auseinanderzuhalten lernen, ist die sogenannte „erste Horizontale“. Vorn und Hinten sind bei unseren Körpern deutlich verschieden: Vorn ist da, wo die Nase ist, und die Augen. Und hinten ist der Po.

3. Rechts und links:
Die sogenannte „zweite Horizontale“ ist für Kinder am schwierigsten zu verinnerlichen: weil die zwei Seiten unseres Körpers symmetrisch gebaut sind (zumindest das, was man äußerlich sieht). Das Unterscheiden von Links und Rechts muss gelernt werden.

Durch die Erfahrungen mit dem eigenen Körper entwickelt das Kind ein stimmiges KÖRPERSCHEMA. Damit ist das INNERE BILD vom eigenen Körper gemeint. Dieses liefert eine sichere Ausgangsposition für Lernprozesse: Ich weiß, wer ich bin, wo ich bin, und wie ich im Raum platziert bin. Von diesem Gefühl aus kann ich starten und aktiv werden – besonders auch beim Thema Mathe.
                              
                                                         
Körperkönnen
Das KÖRPERKÖNNEN unserer Kinder lässt bedrohlich nach: Erzieher/innen und Lehrer/innen haben es mit immer mehr Kindern zu tun, die Probleme haben zu balancieren, zu hüpfen, auf einem Bein zu stehen, rückwärts zu laufen… es fehlt an Körperkoordination und –beherrschung. Energie- und Lernblockaden werden oft auf diese Mängel zurückgeführt.
Es liegt nicht an unseren Kindern, dass deren körperlichen Fähigkeiten oft so schlecht entwickelt sind: Kinder haben zunächst einmal den natürlichen Drang zur Bewegung, haben Freude daran und sammeln ganz automatisch Bewegungserfahrungen und entwickeln ihre körperlichen Fähigkeiten –falls sie ausreichend Gelegenheit dazu haben. Das setzt Zeit, Raum, Umgebung, Materialien und unterstützende erwachsene Begleiter/innen voraus, daran mangelt es aber vielen Kindern heutzutage, weil ihre Zeit verplant ist, Freiräume für Kinder nicht vorhanden sind, moderne Medien Kinder zu Sofahockern machen und Eltern es an Zeit mangelt und nicht selten auch an Vertrauen in die körperlichen Kompetenzen der Kinder.
Kinder entwickeln Körperkönnen beim Balancieren, Klettern, Rennen, Kriechen, Rollen, Schwingen… kurz: mit jeder Art von Bewegung im Raum. Tasten und Berühren lässt sie ihren Körper spüren. Bewegungserfahrungen sind immer auch RAUMERFAHRUNGEN: Ich bewege meine Hand nach OBEN, um das Mobile zu greifen; ich laufe (hüpfe, schleiche…) von HIER nach DORT, auf GERADEr Linie oder im BOGEN; ich klettere AUF etwas oder krabble UNTER etwas her… In der Bewegung erleben die Kinder Beziehungen zwischen verschiedenen Orten Im Raum und zum eigenen Körper: vorwärts / rückwärts / seitwärts, oben / unter, vorn / hinten, gerade / gebogen, rund / eckig, hinter / vor, hoch / tief, kurz / lang, über / unter, innen / außen, zwischen, neben… (nebenbei: Sie sehen, wie ausführlich dabei auch Spracherwerb betrieben wird…).
Übrigens: Ein sicherer Umgang mit der Raumlage wird für die Kinder später auch wichtig beim Erlernen von Ziffern und Buchstaben: damit 6 und 9 nicht verwechselt werden, oder d, b, p, q…

„Mathe-Wohnung“ im Kopf
Das Kind erfährt den Raum durch praktische, sinnliche Erfahrung; sie ermöglicht es, dass irgendwann räumliche Zusammenhänge als bloße Vorstellung aktiviert werden können. Keith Devlin, ein bekannter zeitgenössischer Mathematiker, sagt auf die Frage nach dem „Geheimnis“ guter Mathematiker, in seinem Kopf existiere eine Art „Mathe-Raum“, in dem er sich in seiner Vorstellung nach Belieben bewegen und Dinge tun kann. Eine innere „Mathe-Wohnung“, die das Ergebnis verinnerlichter realer Erfahrungen ist. – Nun müssen und werden unsere Kinder nicht samt und sonders Mathe-Genies werden, aber sie alle sollten die Chance haben, eine solide Körper- und Raumerfahrung zu entwickeln. Als Grundlage für die solide Fähigkeit, mathematische Zusammenhänge nachvollziehen zu können.

Was heißt das für die Kita-Praxis?
Es nützt ja nichts, die zunehmenden Bewegungsmängel vieler Kinder zu bejammern; ebenso wenig wie das Schimpfen auf deren Eltern nützt, die – aus Ahnungslosigkeit, Zeitmangel oder warum auch immer – die Entwicklung ihrer Kinder möglicherweise zu wenig unterstützen und sie vielleicht auch falsch ernähren… Kinder verbringen bei uns heute viel mehr Zeit denn je in öffentlichen Erziehungseinrichtungen, also müssen Kitas und Schulen eine möglichst gute Entwicklungsbegleitung der Kinder zu ihrer Aufgabe machen. Dabei spielt die Förderung von Körper- und Bewegungserfahrungen eine wichtige Rolle (übrigens nicht nur für die Entwicklung mathematischen Denkens, sondern für die Entwicklung insgesamt). Dies sind beispielsweise Gelegenheiten, bei denen sich die Freude an Bewegung und das Körperkönnen entwickeln können:

Freispiel
Das freie Spiel, drinnen und draußen, in anregender Umgebung ist und bleibt die wichtigste Gelegenheit für Kinder, ihre Körperlichkeit zu entwickeln. Die Umgebung sollte Impulse und Möglichkeiten geben zum Rutschen, Rennen, Balancieren, Schaukeln, Wippen, Klettern, Springen, Riechen, Fühlen, Matschen, Rollen… kurz: zum SPIELEN.
Den Raum erFAHREN können Kinder auch mit allen möglichen Kinderfahrzeugen: Dreirad, Bobbycar, Roller, auch Rollbretter (gibt es im Baumarkt in verschiedenen Formen) …

Regelspiele und Gruppenspiele                                                       

                                                           

Viele Spiele, besonders auch alte, „klassische“ Kinderspiele sind Bewegungsspiele: Kennen Sie „Fischer, wie tief ist das Wasser“*, „Machet auf das Tor“*, Reigenspiele wie „Ringelrangelreihe“* oder „Auf der Eisenbahn“*? Auch Versteckspiele, Schnitzeljagd und Sackhüpfen sind Spiele, die das Körperkönnen der Kinder trainieren. Drinnen wie draußen kann man mit Tischen, Stühlen, Bänken, Rollen und anderen Requisiten wunderbare Parcours und Bewegungslandschaften bauen, die dem Entwicklungsstand der Kinder angepasst werden können.
Kimspiele aller Art (z.B. Fühlsäcke: Ertaste die zwei gleichen Gegenstände im Sack, oder: finde einen bestimmten Gegenstand) trainieren den Tastsinn der Kinder. Ebenso das Malen von Formen auf den Rücken. Eine gegenseitige Kindermassage (z.B. „Pizza backen“*) ist Entspannung und Belebung der Körperempfindung.

Musik, Tanz und Rhythmus
Beim Tanzen zu Musik (frei oder z.B. Kreistänze nach Anleitung) können die Kinder körperlich Ordnungen und Wiederholungen erfahren, Gleichgewicht und Körperbeherrschung üben. Rhythmen kann man stampfen oder gehen (beispielsweise beim Spaziergang: „Ein Hut, ein Stock, ein Regenschirm“*…) Auch unser Körper kann ein Rhythmusinstrument sein: Mit einfachen „Bodypercussion“-Elementen (zum Rhythmus in die Hände klatschen, auf die Oberschenkel, den Bauch, den Po klopfen…) oder einfachen „Beatbox“*-Geräuschen (mit der Zunge schnalzen, Schmatzgeräusch, überdeutlich „K“ , „P“oder „T“ sagen …) lässt sich ein Rhythmus herstellen.
Rhythmen erleben können schon ganz kleine Kinder: mit Finger- und Kniereiterspielen*, Kinderreimen, Klatschversen*, Kreisspielen… Oder: bauen Sie doch einmal einfache Instrumente* mit den Kindern; damit können Sie wunderbare „Orchestermusik“ erfinden…

 

Körperübungen, Kinesiologie, Brain-Gym & Co

Im Bewegungsraum (und z.B. im Außengelände) ist Platz und Gelegenheit für allerlei Körper- und Bewegungsübungen, die auch in Spiele und/oder Geschichten eingebaut werden können: Auf einem Bein hüpfen, Hopserlauf, rückwärts gehen, die Füße fest auf dem Boden haben und pendeln: vor/zurück und hin/her, auf Zehenspitzen gehen…
Aus der Kinesiologie* wurden zahlreiche Übungen entwickelt, die auch für Kinder geeignet sind und Körperkönnen und –harmonisierung verbessern, beispielsweise: Überkreuzbewegungen,  „Baumkrone“, „liegende Acht“ in die Luft malen…

Unser Körper: Heimat und Werkzeug
„Unser Körper ist unsere Heimat und zugleich unser Werkzeug.“ (Simone Pfeffer: Emotionales Lernen). Das Kindesalter ist die Zeit, in der wir heimisch werden in dieser „Heimat“ und dieses „Werkzeug“ entwickeln – durch SPIELEN: „Ohne intensives Spielen, welches den ganzen Körper beansprucht, verschafft sich das Kind nicht das Ausmaß an Sinneswahrnehmung, das notwendig ist, um das Gehirn in seiner Gesamtheit zu entwickeln.“ (Jean Ayres, Begründerin der „sensorischen Integration“, die die Grundlage u.a. für Motopädie ist). Die wenigsten Kinder erleben heute Bedingungen wie Astrid Lindgrens „Kinder aus Bullerbü“, die scheinbar endlos Zeit und Raum hatten, sich und ihre Umgebung zu erleben. Heute brauchen Kinder mehr denn je unsere Unterstützung, um Bedingungen vorzufinden, die es ihnen ermöglichen, ihr Körperkönnen durch Erfahrung zu entwickeln.
… Wie schön, dass es so viel Spaß macht, Kinder bei diesen Erfahrungsprozessen zu begleiten und ihre Freude an den eigenen, sich entwickelnden Fähigkeiten zu erleben! Schön wäre es, wenn wir als „Lernbegleiter/innen“ auf diese Weise helfen könnten, die kindliche Freude an der Bewegung zu pflegen und zu erhalten. Und das beileibe nicht nur wegen Mathe…

Gabriele Dahle

 

know-how für kitas

www.pragma-kita.de

 
Literaturtipps:
Es gibt mittlerweile eine schier unübersehbare Menge an Büchern zum Thema. Ich persönlich finde – beispielsweise –  ziemlich gut und anregend:

Christina Buchner:          Neues Rechnen – neues Denken. VAK 2005

                                     Brain-Gym® & Co. Kinderleicht ans Kind gebracht. VAK 2007

Frau Buchner ist Grundschullehrerin und vieles bezieht sich auf Schulkinder; doch sie erklärt wunderbar und hat viele Praxisvorschläge, die sich auch für Kita-Kinder eignen.

Sibylle Wanders:             Bewegung macht klug. Velber 2003. Ein Buch voller Spielvorschläge.

Ludwig Koneberg, Gabriele Förder:       Kinesiologie für Kinder. Gräfe und Unzer 2008

                                                Das Buch ist aus der Lernberater-Perspektive geschrieben (betrachtet also

vor allem Schulkinder), bietet aber sehr verständliche Erklärungen zu den Grundlagen und viele praktische Übungen, die sich auch für jüngere Kinder eignen.

Anleitungen für allerlei Bewegungsspiele:

Fischer, wie tief ist das Wasser: http://kinderspiele.wikia.com/wiki/Fischer,_Fischer,_wie_tief_ist_das_Wasser

http://www.labbe.de/spielotti/index.asp?spielid=757

 

Machet auf das Tor:

Anleitung: https://www.youtube.com/watch?v=vC-zl67w-vA

Video: https://www.youtube.com/watch?v=W9xLMOaiNeQ

Text: https://www.heilpaedagogik-info.de/bewegungslieder/2122-macht-auf-das-tor.html

 

Ringelrangelreihe: https://www.heilpaedagogik-info.de/bewegungslieder/2121-ringel-ringel-reihe.html

 

Auf der Eisenbahn: https://www.musa24.fi/soittoaani/Detlev-J%C3%B6cker/Auf-der-Eisenbahn-steht-ein-schwarzer-Mann/8ae7b8b9-6888-8c41-ba5c-4a0ec3a03aaf/

 

Pizza backen – Kindermassage: http://www.kindergaerten-in-aktion.de/praxis-alltag-in-kindertageseinrichtungen/bewegung/spielideen/entspannung-1/Entspannung_Pizza_backen.pdf

 

Ein Hut, ein Stock, ein Regenschirm: http://www.labbe.de/liederbaum/index.asp?themaid=21&titelid=266

https://www.youtube.com/watch?v=A76-sGBQ8vI

 

Beatbox: Kinder-Tutorial: https://www.youtube.com/watch?v=O68R5klOCZ4

 

Musikinstrumente aus Alltagsmaterialien: http://www.labbe.de/zzzebra/index.asp?themaid=544

 

Fingerspiele: http://www.labbe.de/zzzebra/index.asp?themaid=271&titelid=2021

 

Klatschspiele: http://www.kidsweb.de/spiele/klatschspiele/klatschspiele.html

https://www.youtube.com/watch?v=ShlhMIIGl5M

 

Kniereiter: https://www.kindaktuell.at/kniereiter.html

 

Kinesiologie / Braingym: http://www.laspo.de/images/8.1_Braingym.pdf

 

Yoga für Kinder: http://www.labbe.de/zzzebra/index.asp?themaid=390&titelid=1364