Die Hiltruper Strolche: Coronavollbremsung und die Folgen

Natürlich hat sich niemand die Coronakrise gewünscht. Wir müssen mit ihr umgehen. Dies kann zu Erkenntnissen und Entwicklungen führen, die weder vorhersehbar noch planbar sind. Wichtig ist vielleicht die Haltung, auch das Positive, mögliche Chancen zu erkennen, sich zu trauen, genauer hinzugucken und auch zuzugreifen usw. (siehe hierzu auch unseren Blog vom 15.4.) Heute nimmt uns Kirsten Bücker-Enking, Leitung einer dreigruppigen Elterninitiative in Münster mit 55 Kindern (1 Jahr bis zur Einschulung), mit in ihre Kita und lässt uns mit Ihren Aufzeichnungen teilhaben an einem völlig ungeplanten, aber um so wichtigeren Lernprozess in ihrem Team, der durch die Coronavollbremsung ausgelöst wurde: Stressabbau, Qualitätszeit, das Wesentliche der Arbeit mit Kindern und Eltern... Natürlich sind diese Erfahrungen nicht 1:1 übertragbar auf andere Kitas, da jede Kita, jedes Team etwas anders tickt. Aber sie machen Mut, sich nicht unterkriegen zulassen, auch in schwierigen Zeiten positiv zu bleiben und den für die eigene Kita passenden Weg zu finden.

Die Stressfalle
In dieser Zeit, seit wir „stillgelegt“ wurden, ist viel passiert. Große Unsicherheit hat sich über das ganze Team wie eine schwere Wolldecke gelegt. Wir wurden aus einer seit Monaten andauernden, von Personalausfällen und Hyperstress geprägten Zeit gerissen. Wir waren es gewohnt, täglich über unsere persönlichen Grenzen zu gehen, um „den Laden am Laufen zu halten“. Ich behaupte mal, jeder und jede von uns hat 150 Prozent von dem gegeben, was er oder sie eigentlich persönlich einsetzen kann. Weil wir unserer Verantwortung bewusst sind und sich das Rad ständig weiterdreht, ohne dass wir Luft holen können. Besonders gut ging es uns schon lange nicht mehr. Als die Kitaschließung kam, haben wir uns weiter in diesem Rad gedreht. Wir waren es so gewohnt – wir konnten nicht aufhören. Die Kita wurde entmüllt, gesäubert, es wurden Aufgaben für das Home Office verteilt, nun entstand sogar Stress, weil die Vollzeitkräfte Sorge hatten, ihre Arbeitsstunden gar nicht zu erfüllen. Das Pflichtbewusstsein war riesengroß…

`Gute Arbeit´ und Qualitätszeit – Austauschen, Reflektieren, Weiterentwickeln!
…und als ich den Stress bei den Kolleginnen bemerkt habe, habe ich ihnen gesagt, sie dürften auch einmal einfach nur dasitzen und denken. Und Lesen. Und im Internet recherchieren. Auch miteinander stundenlang telefonieren. Darüber, was auch eine gute pädagogische Arbeit ausmacht: austauschen, entwickeln, reflektieren. Und wozu wir einfach nie Zeit haben im normalen Kitabetrieb. Dies in Ruhe, ohne Lautstärke und Störungen zu tun – wir mussten uns erst einmal daran gewöhnen. Und ich kann sagen: Was in dieser Zeit entstanden ist, das hätten wir in den nächsten Jahren unter normalen Umständen nie geschafft: Einarbeitungskonzept, Organigramm, Kita-ABC, Vorschulkonzept mit einer durch das Jahr führenden, selbst ausgearbeiteten Themen-Mappe, zwei Matschküchen und eine Bobbycar-Waschanlage für den Kita-Garten, alles aus Paletten gebaut und mit vielen Details ausgestattet.

Chance Notbetreuung: Kind 1
Jede von uns konnte ihre Talente einsetzen, und die zwei jungen Kolleginnen haben sich freiwillig für die Notbetreuung gemeldet, worüber alle Kolleginnen mit kleinen Kita- und Schulkindern einfach nur dankbar waren. Nebenher halten wir auf verschiedene Weise Kontakt zu den Familien zuhause, aber uns ist jetzt etwas ganz Wunderbares aufgefallen, was die Kinder in der Notbetreuung betrifft. Wir haben dort Zweijährige, die im Regelbetrieb immer Schwierigkeiten mit der Lautstärke und der allgemeinen Reizüberflutung hatten. Entsprechende Signale haben diese Kinder auch ständig gesendet. Nun erleben wir diese Kinder gelöst, zufrieden, in sich ruhend. Kein Wunder, zu zweit mit ein bis zwei Erzieherinnen 🙂

Chance Notbetreuung: Kind 2
In einer anderen Betreuungsgruppe ist jetzt das Kind dazu gestoßen, das sprachlich Unterstützung benötigt. Die Eltern hätten regulär keinen Anspruch, aber sie sorgen sich um die Entwicklung des Kindes und wir haben es gerne dazu genommen. Wie schön für dieses Kind, in einer kleinen überschaubaren Gruppe sprachliche Anreize zu bekommen und nicht im tosenden Alltagsbetrieb `unterzugehen´, wo sich die Wahrnehmung der Erzieherinnen auf viele Kinder verteilen muss.

Chance Notbetreuung: Kind 3 und 4 Und dann sind da noch die zwei Kinder, die trotz gleicher Gruppe noch nie Kontakt zueinander gefunden hatten, weil sie sich an ihren bisherigen Freunden orientiert haben. Sie haben eine Woche zu zweit verbracht und konnten sich einmal viel besser kennenlernen. Vielleicht überdauert diese neue Freundschaft ja auch die Corona-Krise.

Eingewöhnung U3 etwas anders
Und zuletzt werden in der U3-Gruppe Kinder eingewöhnt. Zunächst noch zeitlich versetzt, damit sich wegen der beiwohnenden Eltern nicht zu viele Menschen in der Gruppe aufhalten. Bald werden sie den Vormittag gemeinsam dort sein mit einigen weiteren U3-Notbetreuungskindern. Auch dort ist – zumindest derzeit – die Gruppe noch überschaubar. Die Kleinsten haben ihre Erzieherinnen endlich auch mal für sich – wenn auch mit gemischten Gefühlen für die Erwachsenen mit Blick auf Ansteckungsgefahren. Hoffen wir, dass die Kinder davon möglichst wenig mitbekommen und auch hier die Ruhe genießen.

Zurück zum Kern: Das Wesentliche!
Und noch etwas trägt zur allgemeinen Ruhe bei: Alle geplanten Aktivitäten fallen weg. Das ist zum Teil so traurig, dass ich weinen könnte – wir hatten noch so tolle Aktivitäten für die Vorschulkinder geplant und einen ganz großen Ökoflitz-Ausflug in die Waldschule mit der halben Kita. Diesen Ausflug kann man einmal im Jahr kostenlos bei unseren Stadtwerken ergattern. Wir hatten ein Riesenglück und waren dabei. Nun haben wir einfach Riesenpech! 🙁  Vom normalen ausfallenden Programm wie das beliebte Turnen in der Turnhalle ganz zu schweigen. Aber wir stellen fest: Bei aller Traurigkeit, ist das Kitaleben ungemein entschleunigt. Kein Terminstress, kein Planungsstress. Eine Gelassenheit macht sich breit. Zur Zeit ist es am wichtigsten, für die Kinder da zu sein, den Familien einen Anker zuzuwerfen, Gespräche zu führen. Der Druck, den wir von außen immer herangetragen bekommen und den wir uns auch selbst machen, ist einfach weg. Plötzlich rückt das Wesentliche in den Mittelpunkt: Wir sind für die Kinder und die Familien da! Und zwar ohne große Ansprüche, was wann in welcher Gruppe pädagogisch angeboten wurde.

Nutzen wir die Coronachance!
Es ist auch nicht gerade einfach, mit dieser neuen Situation umzugehen. Es gibt jetzt andere Regeln zu Hygiene, Infektionsschutz und Co., auch das macht uns gerade viel Arbeit. Aber ich sehe wieder entspannte, gelassene Kolleginnen und Kinder, und ich kann auch mal wieder mit meiner Stellvertreterin reden und planen, ohne zwischen Kindern, Telefon und Computer hin und her zu hetzen. Ich bin mal gespannt, was wir aus dieser Zeit lernen, beibehalten werden. Ich glaube, momentan kann sich das „Vorher“ niemand von uns mehr vorstellen. Wenn sich die Kita jetzt schrittweise wieder füllt, vielleicht können wir dieses Gefühl mitnehmen. Ich wünsche es den Kindern und uns Fachkräften so sehr. Dann hatte Corona auf jeden Fall auch etwas Gutes. Wir werden daran arbeiten! Versprochen!

Links und weitere Informationen:
Hier finden Sie die Hiltruper Strolche  im Netz. Hier der Link zu Eltern helfen Eltern e.V. in Münster.  Der Kontakt  von pragma gmbh ist 2014 über die von Eltern helfen Eltern initiierte gemeinsame Qualitätsentwicklung für Elterninitiativen in Münster und Umgebung entstanden. Am 15.4. hatten wir schon einmal ein Blog zum Thema: Corona als Chance zum Teambuilding.