Warum können unsere Kinder immer weniger Mathe? Gedanken zur aktuellen TIMSS-Studie.

Gabriele Dahle
Dass „immer mehr Kinder immer weniger rechnen“ können, hat Christina Buchner, Grundschuldirektorin und Buchautorin, schon 1999 in ihrem (nach wie vor sehr lesenswerten!) Buch „Neues Rechnen – neues Denken“ geschrieben. Ganz offenbar hat sich der schon vor zwanzig Jahren erkennbare Trend unbeirrbar fortgesetzt: wissenschaftlich belegt durch die jüngst veröffentlichte TIMSS-Studie (Trends in International Mathematics and Science Study). Die mathematischen Fähigkeiten deutscher Grundschulkinder (getestet wurden Viertklässler/innen), so sagt diese alle vier
Jahre durchgeführte Studie, nehmen insgesamt ab. Und Kinder in Deutschland sind im internationalen Vergleich ziemlich mittelmäßig; weit abgeschlagen hinter asiatischen Ländern (an der Spitze: Singapur, Hongkong, Südkorea, Taiwan und Japan), aber auch hinter vielen EU-Staaten (und zwar hinter: Irland, Norwegen, England, Belgien, Portugal, Dänemark, Litauen, Finnland, Polen, Nieder-lande, Ungarn, Tschechische Republik und Bulgarien). Deutlich unter dem Durchschnitt aller EU-Staaten. All das ist zusammengefasst hier nachzulesen: http://www.ifs.tu-dortmund.de/downloads/TIMSS_2015_Pressekonferenz_Handreichung.pdf
Das ist zum Verzweifeln, oder? Da werden seit dem „PISA-Schock“ im Jahre 2000 im schulischen wie im vorschulischen Bereich die Anstrengungen verstärkt, diesem scheinbar unaufhaltsamen Veblödungstrend entgegenzuwirken, und trotz allem werden unsere Kinder (zumindest, was Mathe angeht) offenbar immer dümmer…?

– Natürlich sind unsere Kinder heute nicht dümmer als vor fünfundzwanzig, fünfzig oder hundert Jahren. Aber ihre Lebens- und Lernbedingungen haben sich geändert. Studien wie TIMSS können ja immer nur einen Teil der Wirklichkeit abbilden. Neben der Frage, was GENAU sie eigentlich messen (also: wie und woran machen sie eigentlich „mathematische Fähigkeiten“ fest?), wäre ja besonders interessant, WARUM die Ergebnisse so sind, wie sie sind. Damit wir daraus Ideen ableiten können, wie wir Kinder noch besser bei ihrem Zugang zur Mathematik unterstützen können.

Sprachprobleme machen Matheprobleme

Eine Erklärung liefert die Studie immerhin: Kinder, die aus Familien mit Migrationshintergrund kommen, haben durchschnittlich mehr Schwierigkeiten mit Mathematik als ihre deutschstämmigen Mitschüler/innen. Mehr Kinder aus Migrantenfamilien – mehr Kinder mit Matheproblemen. So einfach ist das. Und es ist keine Überraschung: Die Entwicklung mathematischen Denkens und Sprachentwicklung hängen nachgewiesenermaßen eng zusammen, und hier werden Weichen früh gestellt. Jede Anstrengung, die Kinder in den Kitas sprachlich zu fördern, unterstützt also automatisch ihre mathematische Entwicklung (so wie ihre Lernentwicklung insgesamt).

Der gewachsene Anteil an Kindern, deren Muttersprache nicht Deutsch ist, ist aber beileibe nicht die einzige festgestellte Ursache für die wachsenden Mathe-Probleme von Kindern in Deutschland: Die TIMSS-Studie stellt nämlich auch fest, dass der Leistungsunterschied zwischen Kindern mit und ohne Migrationshintergrund geringer geworden ist. Und das hat zwei Gründe: Zum einen haben die nicht-deutschen Kinder aufgeholt (Glückwunsch! … Sicher auch ein Verdienst der jahrelangen Bemühungen im Kita- und im Schulbereich). Gleichzeitig sind aber zum anderen die Kinder ohne Migrationshintergrund im Durchschnitt schlechter geworden. (Das wiederum sollte uns alarmieren.)

6 Faktoren, die für die Entwicklung mathematischen Denkens wichtig sind

Es muss also mehr und andere Gründe geben für das immer schlechter werdende Abschneiden unserer Kinder in Sachen Mathematik. Je mehr Lern- und Entwicklungspsychologen darüber herausfinden, wie die Entwicklung mathematischen Denkens funktioniert, desto deutlicher kann man ausmachen, wie und wo die heutigen Lebensbedingungen vieler Kinder ihrer mathematischen Lernentwicklung entgegenstehen. Aus meiner Sicht spielen folgende Faktoren hier eine zentrale Rolle:

1.       Den engen Zusammenhang zwischen Sprachentwicklung und mathematischer Entwicklung habe ich schon erwähnt.

2.       Bewegungs- und Körpererfahrungen stehen ebenfalls in engem Zusammenhang mit der Entwicklung mathematischer Vorstellungen im Kopf. Man kann sich das einfach vorstellen: „Rechnen ist Hin- und Herräumen im Kopf“, sagt beispielsweise Christina Buchner. Um Rechenvorgänge zu verstehen, muss ich echte Erfahrungen mit dem Hin- und Herräumen von Dingen haben, dazu gehören Bewegung und Raumbewusstsein.

3.       Mathematisches Denken entwickelt sich im Tun, nicht im Konsumieren. Die Lern- und Entwicklungsprozesse erfolgen, wenn ich etwas MACHE und dabei auftauchende Probleme LÖSE. So lernen Kinder viel über Geometrie und das Zahlensystem, wenn sie nach eigenen Vorstellungen  – also ohne Vorlage – etwas aus Bausteinen bauen. Dazu brauchen sie manchmal auch Geduld und Durchhaltevermögen.

4.       Mathematik: Das ist Regel und Struktur. – Dies ist sozusagen die allgemeinste Definition davon, was Mathematik überhaupt ist. Sie bringt Ordnung in das Chaos der Welt; mathematische Konzepte sind verlässlich, und sie beinhalten Wiederholungen. Erlebte und verinnerlichte Strukturen sind die Gerüste für mathematische Konzepte im Kopf. Kinder erleben solche Regelmäßigkeiten (zum Beispiel: Es gibt gerade und ungerade Zahlen, ein quadratisches Papier kann man in zwei genau gleiche Dreiecke teilen etc.) im Tun. Um sie zu erkennen, müssen sie sie aber oft erleben: Wiederholungen gehören notwendig zum Entwicklungsprozess mathematischen Denkens.

5.       Kinder brauchen Lernbegleiter. Was Pädagogen schon lange wussten, har die Hirnforschung bestätigt: Bildung braucht Beziehung. Um neugierig und vertrauensvoll unbekannte Wege zu gehen und neue Dinge zu lernen, brauchen Kinder das sichere Gefühl eines (oder besser: mehrerer) zugewandten Erwachsenen, der Zeuge, Unterstützer und Begleiter seiner Lernwege ist. Eines Erwachsenen, der Zeit für das Kind hat und sich für seine Welt und seine Denkwege interessiert. Das gilt für mathematisches wie für alles andere Lernen.

6.       Stress ist Gift für echte Lernentwicklung. Auch dies gilt für alle Lernbereiche. Und man kann es hirnbiologisch nachweisen: Stress stört und blockiert die Lernfähigkeit bei Kindern wie bei Erwachsenen. Zu viele Reize machen Stress, zu viele Anforderungen machen Stress; Kinder brauchen das Gefühl, Dinge in Ruhe und in ihrem Tempo tun zu können; im Bewusstsein des Vertrauens „ihrer“ Erwachsenen, dass sie es schaffen werden.

Betrachtet man diese Aufstellung, so kann man schon ausmachen, dass die Lebenswelt der heutigen Kindergeneration ihnen nicht selten Grunderfahrungen vorenthält, die vor vielleicht fünfzig Jahren noch selbstverständlicher Kinderalltag waren: Ihre Bewegungsräume sind eingeengter, sie sind – mit ihren Eltern gemeinsam –  in enge Zeitpläne eingepresst, die funktionieren müssen, Eltern haben weniger Zeit für eine Begleitung der Kinder, sorgen vielleicht auch weniger für Regeln, die Spielwarenindustrie wartet mit aufregenden, immer neuen, oft vorgefertigten Spielzeugen auf, Langeweile soll nicht sein, alles soll schnell gehen, Wiederholungen gelten als langweilig, oft tun DIE DINGE etwas (Geräusche machen, sich bewegen, flimmern, sprechen, Filme zeigen… ) statt dass die Kinder mit ihnen wirklich etwas tun können … das sind die Trends unserer Zeit. Sie betreffen nicht alle, aber immer mehr Kinder.

Es sind gleichzeitig die Punkte, an denen bei der Kita-Bildungsarbeit meines Erachtens ansetzen kann; nicht nur, aber insbesondere auch beim Thema Mathe. Weichen für Bildungsentwicklungen werden in den frühen Jahren gestellt, und da ist die Kompetenz der Kitas gefragt. Wünschen würde ich mir, dass der enormen Bedeutung, welche die Kitas hier haben, auch dadurch bildungspolitische Rechnung getragen würde, dass ihnen nicht nur immer mehr Aufgaben zugeteilt werden, sondern auch angemessen mehr Ressourcen. Deutschland steht wirtschaftlich doch vergleichsweise super da! – Da finde ich es nicht einfach zu verstehen, warum wir es uns leisten, bei unseren Bildungsausgaben im Ländervergleich weit unter dem Durchschnitt der OECD-Länder zu stehen. Wir geben gerade 5,1% unseres Bruttoinlandsprodukts für Bildung aus (zum Vergleich: Dänemark investiert 8,7% in Bildung. Eine Tabelle zu den Daten findet man hier: http://www.laenderdaten.de/bildung/bildungsausgaben.aspx). Vielleicht kann man an dieser Stelle ja auf die nächsten Wahlen hoffen…?

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